Rheinischer Merkur
 
http://www.rheinischer-merkur.de/index.php?id=28598
Datum: 12.06.2008


EUROPAMEISTERSCHAFT 
„Lernt’s Geschichte, Burschen!“

Wenn Österreich und Deutschland am 16. Juni aufeinandertreffen, ist er fast auf den Tag genau dreißig Jahre her: der österreichische Sieg bei der WM im argentinischen Córdoba. Ein Psychogramm der nachbarschaftlichen Beziehungen.

VON PETER MEIER-BERGFELD



AUSGLEICH: Hans Krankl (links) hebt den Ball über Torhüter Sepp Maier hinweg zum 2 : 2. Am Ende gewinnt Österreich durch ein weiteres Krankl-Tor mit 3 : 2.
Foto: dpa 

Der ewig präpotente Deutsche bringt es auf den Punkt: „Bei der Fußball-WM habe ich mir Österreich gegen Kamerun angeschaut. Auf der einen Seite Exoten, fremde Kultur, wilde Riten – und auf der anderen Seite Kamerun.“ So ist der Piefke: arrogant, überheblich, besserwisserisch, lärmend, aber eben auch – im Auge des kleinen Bruders – effektiv. Karl Kraus lässt in den „Letzten Tagen der Menschheit“ einen österreichischen General zu einem anderen sagen: „An Schick, an Charme, an Esprit, das gewisse Etwas ham’s net, die Preußen – aber a Organisation, a Organisation! Im nächsten Krieg schaff mer uns auch a Organisation an!“ Jaja, die Parzen weben anderswo, Du, Österreich, hast Grillen (Friedrich Torberg).

Ewig und drei Tage also Córdoba; wo kann man Königgrätz schöner projizieren als im Fußball, in der Arena, der Kampfbahn, bei den Titanen. Córdoba 1978 war der erste Sieg nach 47 (!) Jahren, die späte Rache für das 6 : 1 in Bern 1954. 1931 ging's dem damaligen österreichischen Wunderteam (Matthias Sindelar unter anderem) noch gut, mit 6 : 0 gegen Deutschland, bis heute die höchste Heimniederlage der deutschen Mannschaft überhaupt. Der Anschluss hat den Österreichern irgendwie das Genick gebrochen. 1938 in Paris sollte der Reichstrainer aus Technikern (Österreichern) und Kampfmaschinen (Deutschen) eine Mannschaft formen. Das funktionierte nicht. Die Ostmärker maulten und verweigerten sich.

In den Achtzigern dann setzte Österreich auf zu viele Legionäre, die etwa unter dem Decknamen „FC Salzburg“ spielten. Die „Fremden“ hielten nicht, was sie kosteten. Enttäuschung, das österreichischste aller Gefühle. Obwohl: Verlieren hätten’s auch selber können. 2008 erklärt der neue evangelische Bischof in Österreich, „evangelisches Leistungsdenken und protestantisches Arbeitsethos“ fehlten vielleicht. Ein (evangelischer!) Bischof. Was versteht der von Österreich? Wie Hans Krankl immer sagte: „Hauptsache, wir gewinnen. Alles andere ist primär.“ Immerhin: Pepi Hickersberger war damals auch schon – als Spieler – dabei. Heute steht hinten auf seinem Dress „Burgenland“, beim deutschen Cheftrainer „Mercedes“. Pepi Hicke ist ausgerechnet in Amstetten geboren, seine erste Trainerstelle hatte er beim SV Forchtenstein. Dann in Bahrain und bei Fortuna Düsseldorf. Ein österreichisches Schicksal. Spielerlegende Prohaska („Schneckerl“, weil weiland im Afrolook) ist heute pragmatisierter Oberamtsrat.


Jeder weiß, wo er dran ist

Alle österreichischen Parteien und Politiker fiebern mit. Ist doch die EM eine gute Gelegenheit, die unsäglich vor sich hin sumpernde Große Koalition in Wien vergessen zu machen. Kein Kanzler kommt jetzt in die Kabinettskabine, um der Mannschaft „mal so richtig die Leviten zu blasen“ (Copyright Otmar Hitzfeld). Und sogar die Opposition, die – sagen wir es freundlich – sehr deutsche FPÖ in Gestalt ihres Vorsitzenden H. C. Strache freut sich, „wenn man einmal stärker ist als der größere Bruder“. Österreicher freuen sich nämlich mehr über die Niederlagen der Deutschen als über die Siege der eigenen Mannschaft. Das ist auch ein sehr ökonomischer Umgang mit Freude. Strache selbst war rechter Flügelstürmer beim Wiener SC, kann aber auch „mit links schießen“; was ein Angebot zu einer Koalition mit der SPÖ ist, was wiederum sich in Deutschland niemand vorstellen kann: die FPÖ mit der SPÖ? Aber sicher, wir sind in Österreich, hier wird nicht „ausgegrenzt“: Schon Kreisky nahm drei ehemalige Nationalsozialisten in sein Kabinett auf, nannte Simon Wiesenthal einen Angehörigen der „Mafia“.

Das Schöne an Österreich ist: Hier ist die Ausländerfeindschaft völlig offen. Verdruckstes Moralisieren gibt es nicht. Hier weiß jeder, wo er dran ist. Ohne Assimilierung kein Leiberl. Auch der Deutschenhass ist erfrischend klar. Am vorigen Sonntag gab es einen Kommentar im österreichischen Rundfunk, in dem in fünf Minuten fünfmal gesagt wurde: „Ich gönne jeder Mannschaft den Sieg – nur den Deutschen nicht.“ Sage einer, die Österreicher liebten die Vernebelung, wie freilich Hugo von Hofmannsthal in seinem „Schema. Preußen und Österreicher“ (ausgerechnet in der „Vossischen Zeitung“ 1917 gedruckt) noch meinte: In Preußen gäbe es einen Mangel an historischem Sinn, in Österreich traditionelle Gesinnung durch die Jahrhunderte. Andere Polaritäten: Der Preuße handelt nach der Vorschrift/ der Österreicher nach der Schicklichkeit; mehr Konsequenz/ mehr Fähigkeit, sich im Dasein zurechtzufinden; mehr Selbstgefühl/ mehr Selbstironie; verwandelt alles in Funktion/ biegt alles ins Soziale um; behauptet und rechtfertigt sich/ bleibt lieber im Unklaren; selbstgerecht, anmaßend, schulmeisterlich/ verschämt, eitel, witzig; drängt zu Krisen/ weicht den Krisen aus; Kampf ums Recht/ Lässigkeit; Unfähigkeit, sich in andere hineinzudenken/ Hineindenken in andere bis zur Charakterlosigkeit; gewollter Charakter/ Schauspielerei; mehr Staatsgesinnung/ mehr Heimatliebe; alles vom Menschen her/ alles von Natur und Gott; Streberei/ Genusssucht; Vorwiegen des Geschäftlichen/ Vorwiegen des Privaten; harte Übertreibung/Ironie bis zur Auflösung.

Gar nicht dumm, dieser Hofmannsthal. Er ist ja auch der Begründer der Salzburger Festspiele, dieses „tiefsten Ausdrucks bairisch-österreichischer Kultur“. Ja, natürlich, in Österreich spricht man bairisch, ostmittelbairisch näherhin, in Kärnten südbairisch und nur in Vorarlberg alemannisch. Flächenmäßig ist das Bairische in Österreich größer als in Bayern, weil dort das Fränkische und Schwäbische die Statistik versauen. „Unser“ Papst ist übrigens Ehrenmitglied im Förderverein „Bairische Sprache und Dialekte“. Und viele Österreicher sind Vereinsmitglieder.

Der Piefke war kein Baier. Er war preußischer Militärkapellmeister und Komponist des „Königgrätzer Triumphmarsches“. Metrisch-rhythmisch etwa so: „Kartoffelsupp, Kartoffelsupp, und jeden Tag Kartoffelsupp!“ Dann war er mal in Wien, und ein Journalist der „Neuen Freien Presse“ interviewte ihn. Als der fragte, wohin er denn das Belegexemplar senden solle, antwortete Gottfried Piefke: „Mein Juter, schicken se det mal an ‚Piefke/Europa’, det kommt an.“ So was kommt in Wien nicht so gut an.

Wie deutsch sind also die Österreicher? Historisch betrachtet sind sie es natürlich. Die „FAZ“ schrieb: „1000 Jahre Österreich sind 900 Jahre Reichsgeschichte“. Und ein ganzer Schippel von Prominenten vereinnahmte um 1990 herum die Österreicher zur deutschen Kulturnation: Augstein („Österreich ist Bayern, heißt nur anders“), Lafontaine („Leipzig, Wien und Frankfurt sollten frei sein, dann brauchen wir keine Wiedervereinigung“), Peter Glotz (in der „taz“!), Theo Sommer, Wolfgang Mommsen, Werner Weidenfeld, Golo Mann, Helmut Schmidt, die „Süddeutsche Zeitung“ („aufoktroyierte österreichische Souveränitätsbeschränkungen“), Alfred Dregger („Österreich bleibt Teil der deutschen Geschichte“) – und der „Rheinische Merkur“ („Die österreichische Nation ist aus Moskau gekommen“). Jedenfalls hieß der Ostrand des Stammesherzogtums Bayern schon im 8. Jahrhundert „marchia orientalis“, Ostmark. Dollfuß wollte das bessere Deutschland sein, Schuschnigg auch.

Heute ist Österreich beim „nation building“ (der ehemalige Bundespräsident Klestil) und „Österreich ist so deutsch wie die Donau blau ist“ (Alfred Polgar). Die Donau ist braun. Nur noch 20 Prozent glauben laut Umfragen, dass Österreich keine eigene Nation sei, obwohl – List der Geschichte – das österreichische Staatswappen noch immer die Farben Schwarz-Rot-Gold zeigt, allerdings sehr dezent. Das Wappen ist von 1920. Nur der böse Haider hielt Österreich für „eine ideologische Missgeburt“.


Verfreundete Nachbarn

Die österreichische Diplomatin Gabriele Holzer hat ein ganzes Buch geschrieben, ein lesenswertes, um das Nicht-Deutsche an Österreich und den Österreichern zusammenzutragen („Verfreundete Nachbarn“), und der Journalist Mappes-Niediek in seinem Band „Österreich für Deutsche. Einblicke in ein fremdes Land“ hört nicht auf, sich zu wundern über die fremden Deutschsprachigen. Heute brummt die österreichische Wirtschaft (seit 1999 mehr Bruttoinlandsprodukt als Deutschland), im Tourismus ist man freundlich zu den „Sahne“ und „Quark“ Bestellenden. Das Tablett wird schon häufig von Sachsen und Thüringern getragen, worüber sich die Alteingesessenen amüsieren: Westdeutsche bekommen von Ostdeutschen das „Kännchen“ serviert und wissen nicht einmal, auf welcher Silbe man „Kaffee“ betont. Sonst ist kein Land mit Österreich so sehr verflochten – wirtschaftlich und kulturell – wie Deutschland. Die Wiener Goethegesellschaft ist die älteste Goethegesellschaft überhaupt. Natürlich gibt es auch Lästerliches, also – mal wissenschaftlich gesprochen – pejorativ exonymische Ethnonyme über die Österreicher. Die Deutschen halten sie gern für Epikureer, Hedonisten, Phäaken. Sie seien – Verzeihung! – schleimscheißerisch und heuchlerisch, dumpfbackig-rechts, schlampig, konformistisch, unzuverlässig („Kamerad Schnürschuh“). „Klagenfurz“ pöbelte „Bild“. Und natürlich altmodisch. Der Österreicher fahre in der Tramway gerne mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, damit er, auch wenn’s vorwärts geht, zurückschauen könne.

Der Wiener Kulturhistoriker Friedrich Heer sagt: „Es gibt kein geschichtliches Gebilde in Europa, dessen Existenz so sehr mit den Identitätsproblemen seiner Einwohner verbunden ist wie Österreich.“ Außer Deutschland, möchte man hinzufügen. Beide, Österreicher wie Deutsche, haben wohl einen Minderwertigkeitskomplex, eine narzisstische Kränkung aus der Geschichte davongetragen, die Österreicher gegenüber den Deutschen, die sie jedenfalls doch für „tüchtig“ halten, die Deutschen gegenüber der ganzen Welt – nur gegenüber Österreichern nicht.

Wenn es hart auf hart kommt, lieben die Österreicher die Deutschen. In Umfragen äußerten die Austriaken ihre größten Abneigungen gegen potenzielle Nachbarn: 49 Prozent wollten, naturgemäß, nicht mit „Zigeunern“ zu tun haben, 41 Prozent mit Türken nicht, kaum weniger mit Kroaten nicht, aber nur acht Prozent grauste es vor den Deutschen. Ein bisschen ist ja geblieben von Kaiser Franz Josephs stolzem Wort zum französischen Botschafter: „Ich bin ein deutscher Fürst.“ Noch immer haben Österreicher in keinem anderen Land so viele Verwandte wie in Deutschland. Und der Wiener Bürgermeister Zilk ließ am Tag der deutschen Wiedervereinigung am Wiener Rathaus die deutsche Fahne aufziehen. Als sich Jusos bei ihm beschwerten, fertigte er sie ab mit einem alten Wort von Kreisky: „Lernt’s Geschichte, Burschen!“

28 österreichische Ortsnamen beginnen mit „Deutsch-“. Bei Deutschkreutz im Burgenland flohen im August 1989 die ersten 600 Deutschen aus einem Land des Warschauer Paktes nach Österreich in die Freiheit. Sie hatten ihr Kreuz abgeworfen. 15 Orte beginnen übrigens mit „Bairisch-“. Bei der österreichischen Telekom gibt es nur zwei Auskunftsnummern: eine für Österreich und Deutschland, eine für den Rest der Welt.

Richtig lästern über die Österreicher darf nur einer in Österreich, Thomas Bernhard mit seinen an der katholischen Litanei geschulten Anaphern und Epiphoren: „Der Österreicher ist ein gescheiterter Mensch, und er ist sich zutiefst bewusst, dass er das ist. Das ist die Ursache aller seiner Widerwärtigkeiten, seiner Charakterschwäche. Der Österreicher ist der geniale Vormacher, der genialste Theatermacher überhaupt, er macht alles vor, ohne es jemals in Wahrheit zu sein. Der Österreicher ist in der ganzen Welt beliebt, und die ganze Welt hat sozusagen immer einen Narren gefressen an ihm, eben weil er der interessanteste europäische Mensch ist, gleichzeitig aber auch immer der gefährlichste. Der Österreicher ist der gefährlichste Mensch überhaupt, gefährlicher als der Deutsche, gefährlicher als alle anderen Europäer, der Österreicher ist unbedingt der allergefährlichste politische Mensch, das hat die Geschichte bewiesen. Einen Österreicher, der immer ein gemeiner Nazi oder ein stupider Katholik ist, dürfen wir als noch so interessant und einzigartig empfinden, an das politische Ruder dürfen wir ihn nicht lassen, denn ein Österreicher am Ruder steuert unweigerlich immer alles in den totalen Abgrund.“ („Alte Meister“)


„Mutig in die neuen Zeiten“

Wir halten uns lieber an Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende“. Grillparzer, der über Königgrätz klagte, Preußen habe kein Reich errichtet, nur das deutsche Volk zerstört. Er wolle jedenfalls – als Deutscher geboren – auch als Deutscher sterben. Sein „König Ottokar“ wurde sogar noch nach 1938 in Wien gespielt, Gauleiter Baldur von Schirach galt deshalb in Berlin als „schlapp“ und demoralisiert durch die Wiener Bourgeoisie. Jedenfalls: An dieser Stelle klatschte stets das Publikum:

„Es ist ein gutes Land,/ Wohl wert, dass sich ein Fürst sein’ unterwinde! …/ Drum ist der Österreicher froh und frank,/ Trägt seinen Fehl, trägt offen seine Freuden,/ Beneidet nicht, lässt lieber sich beneiden!/ Und was er tut, ist frohen Muts getan./ ’s ist möglich, dass in Sachsen und beim Rhein/ Es Leute gibt, die mehr in Büchern lasen; Allein, was not tut und was Gott gefällt,/ Der klare Blick, der offne, richt’ge Sinn,/ Da tritt der Österreicher hin vor jeden,/ Denkt sich sein Teil und lässt die anderen reden!/ O gutes Land! O Vaterland! Inmitten/ Dem Kind Italien und dem Manne Deutschland,/ Liegst du, der wangenrote Jüngling, da:/ Erhalte Gott dir deinen Jugendsinn/ Und mache gut, was andere verdarben.“

Für die Europameisterschaft geben wir den Österreichern eine Aufmunterung aus ihrer Hymne mit, die offiziell noch immer nicht „Nationalhymne“ heißt, sondern „Bundeshymne“: „Mutig in die neuen Zeiten,/ frei und gläubig sieh uns schreiten,/ arbeitsfroh und hoffnungsreich./ Einig lass in Brüderchören,/ Vaterland, dir Treue schwören,/ vielgeliebtes Österreich.“

Die Wahrheit ist ja: Die Deutschen lieben Österreich.
© Rheinischer Merkur Nr. 24, 12.06.2008
 Artikel kommentieren
 PDF-Ansicht