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  • 23. April 2010, Neue Zürcher Zeitung

    Das Krächzen der Krähen

    Das Krächzen der Krähen

    Zur Schweizerdeutsch-Debatte in der Romandie

    Die schweizerdeutschen Dialekte werden in der Romandie als Sprachbarriere wahrgenommen. Die schweizerdeutschen Dialekte werden in der Romandie als Sprachbarriere wahrgenommen. (Bild: Imago)
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    Die sprachliche Verständigung zwischen Deutschschweiz und Romandie kompliziert sich, weil hier die Mundart – das regional diversifizierte Schweizerdeutsch – mehr Akzeptanz geniesst als dort das Patois. Haben die Westschweizer ein schlechtes Gewissen ihrer eigenen Sprachgeschichte gegenüber?

    Christophe Büchi

    Die Deutschschweizer Dialekte beschäftigen die Romands wie kaum je zuvor. Seit ein Genfer Politiker den systematischen Gebrauch der Mundart durch die «compatriotes alémaniques» als eine Belastung der Beziehungen zwischen den Schweizer Sprachregionen bezeichnet hat (NZZ 6. 4. 10), ist die Eruption in vollem Gang und ist nicht aufzuhalten: Ein Lavastrom von Stellungnahmen für und wider das Schweizerdeutsche ergiesst sich durch die welsche Öffentlichkeit, und selbst die isländische Aschenwolke konnte das Thema nur vorübergehend von der Spitze der Traktandenordnung der hiesigen Medien verdrängen.

    Beispiele? Am vergangenen Mittwoch veröffentlichte die Tageszeitung «Le Temps» einen Leitartikel und eine sehr lesenswerte Seite zum Thema, und gleichentags kamen auch die regionalen Zeitungen «24 heures» und «Tribune de Genève» mit einem Doppelpack. Das Wochenmagazin «L'Hebdo» bewirtschaftet das Thema schon seit Wochen und hat ein Internet-Diskussionsforum am Laufen. Und unter dem an Dada oder Volapük erinnernden Titel «Wötsch Dütsch lärnä?» veröffentlichte die Westschweizer Tageszeitung «Le Matin» am Dienstag einen ganzseitigen Bericht zur Frage, ob die Romands statt der «langue de Goethe», wie die deutsche Sprache hier immer noch charmant-anachronistisch genannt wird, künftig Schweizerdeutsch lernen sollten. Goethe oder Gölä – das ist hier die Frage. (Wobei die Differenz zwischen dem deutschen Klassiker und dem Berner Mundart-Rocker auch gleich die soziologische Bandbreite des Themas anzeigt.)

    Der Strukturwandel der Öffentlichkeit im Web-Zeitalter hat einen Vorteil: Im Internet treten die landläufigen Urteile und Vorurteile unverblümt und ungefiltert zutage. So schreibt ein Chatter auf der «Matin»-Website zur Schwiizertüütsch-Debatte: «Hört mit dieser Eselei (ânerie) auf. Französisch sollte die offizielle Sprache der Schweiz sein. Deutsch ist für die Deutschschweizer eine Fremdsprache, das ist auch der Grund, weshalb die Deutschen in Zürich punkten (cartonnent).»

    Halskrankheit

    Es fällt allerdings auf, dass Stellungnahmen gegen den Gebrauch der Dialekte schlechthin eher selten sind. Die schweizerdeutschen Dialekte werden in der Romandie gerade von der jüngeren Generation recht positiv beurteilt – jedenfalls positiver als von der älteren Generation, die das Bewusstsein von der Überlegenheit der französischen Sprache und Kultur gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen hatten. Die Entwicklung zu einer multikulturellen Gesellschaft führt bei den jungen Romands zu einer Art Coolness gegenüber anderen Sprachen, die auch dem Schweizerdeutschen zugutekommt.

    Die schweizerdeutschen Patois seien keine Sprachen, sondern eine Halskrankheit: Früher war das mehr oder – eher – weniger witzige Bonmot in der Romandie noch auf Schritt und Tritt zu hören. Es reproduzierte einen uralten Topos der lateinischen Kultur: Bereits ein römischer Kaiser hatte die Sprache der Germanen mit dem Krächzen der Krähen verglichen. Und Benjamin Constant, der Busenfreund jener Madame de Staël, die zu Beginn der napoleonischen Ära so viel für die Verbreitung der deutschen Kultur in Frankreich machte, glaubte, das Berndeutsche mit dem Schnattern von Gänsen vergleichen zu müssen.

    Solches hört man heute selten. Es sei schon in Ordnung, dass die Deutschschweizer sprächen, wie ihnen der Schnabel gewachsen sei, tönt es nun aus welschen Chatrooms, nur: Verstehen tue man sie deswegen doch nicht. Aber Romands und Deutschschweizer könnten ja auf Englisch ausweichen.

    Sprachliche Selbstverstümmelung

    Dass die schweizerdeutschen Dialekte in der Romandie als Sprachbarriere wahrgenommen werden, hat nebst den faktischen auch psychologische Gründe. Wenn die französischsprachigen Schweizer ihre liebe Mühe mit Schweizerdeutsch haben, so vor allem deshalb, weil sie selbst ihre eigenen Dialekte nicht mehr sprechen. Sie haben damit eine Entwicklung der französischen Sprachgeschichte nicht nur nachvollzogen, sondern phasenweise geradezu vorweggenommen.

    Wie der Neuenburger Romanist Andres Kristol in «Le Temps» in Erinnerung ruft, sind die Dialekte in der französischen Schweiz besonders rasch verschwunden. Im Gegensatz zu Frankreich war diese Entwicklung hier auch nicht zentral gesteuert. Die Ächtung der Patois, die in Frankreich mit dem Aufstieg der Monarchie im 16. Jahrhundert begonnen hatte, wurde vor allem in der Französischen Revolution vorangetrieben. Damals wurden die Dialekte nicht nur als Ausdruck von zivilisatorischer Rückständigkeit, sondern gar des Widerstands gegen die République regelrecht ausgemerzt. Aber erst mit dem Ersten Weltkrieg verschwanden die Patois in dem noch weitgehend bäuerlichen Frankreich fast völlig.

    Die Westschweiz war in dieser Entwicklung voraus. Dies hat wohl damit zu tun, dass es in der Genfersee-Gegend früh schon Industrie, Tourismus und Sprachschulen gab und dass in der reformierten Romandie die Alphabetisierung der Bevölkerung dank der Bibellektüre weit stärker vorangeschritten war als im nahen Frankreich.

    Die Ausrottung der Patois war hier zudem – anders als in Frankreich – nicht von einer politischen Stelle organisiert, sondern zum grössten Teil ein «freiwilliger» Anpassungsprozess, nicht eine aufgezwungene Amputation, sondern eine sprachliche Selbstverstümmelung. Dies macht die Sache aber nicht einfacher. In der Reaktion vieler Romands gegen die Dialekte spielt, neben Schmerz über die verlorenen sprachlichen Wurzeln, wohl auch unbewusst ein bisschen schlechtes Gewissen über die selbstauferlegte sprachliche Entfremdung mit.

    Der aus dem Wallis stammende Schriftsteller und Literaturwissenschafter Jérôme Meizoz hat diesen Schmerz in seinen Erzählungen sehr schön benannt. Den Romands eignet aber, wenn sie sich der französischen Sprache bedienen, eine bleibende Unsicherheit, wie der Soziolinguist Pascal Singy nachgewiesen hat. Ähnlich wie die Deutschschweizer gegenüber Deutschen haben die Romands gegenüber Franzosen das Gefühl, sprachlich unterlegen zu sein. Anders als die Deutschschweizer verfügen sie aber nicht mehr über ein sprachliches Rückzugsgebiet, über ein Eigenes, in dem sie sich heimisch machen können.

    «Isch eisse Jean»

    Dass die Romands den Deutschschweizer Dialekten meist mit Unverständnis begegnen, ist zwar schade, aber in Anbetracht der französischen Sprachgeschichte verständlich. Statt über das Unverständnis der Romands den Kopf zu schütteln, sollten die Deutschschweizer einfach das machen, was sie im Umgang mit Anderssprachigen ohnehin tun sollten: ohne Wenn und Aber ins Hochdeutsche wechseln. Nur wenn die Deutschschweizer wirklich Standarddeutsch sprechen, sind die Romands motiviert, ihre Deutschkenntnisse über das Niveau eines mühsam artikulierten «Isch eisse Jean!» herauszuheben.

    Die Vorstellung freilich, dass einerseits die Deutschschweizer auch Hochdeutsch als Teil ihrer eigenen sprachlichen Identität akzeptieren und anderseits die Romands fliessend Hochdeutsch parlieren, dürfte wohl auf absehbare Zeit Wunschdenken bleiben. Und so wird der schweizerische Sprachenhaushalt auch künftig seinen gewohnten Gang gehen: Die Romands verstehen die Deutschschweizer nicht (oder selten, oder nicht gut), und die Deutschschweizer verstehen nicht, dass sie sie nicht verstehen.

    Das ist zwar dumm, aber man kann damit leben. Der Schweizer Sprachenfrieden beruhte ohnehin nie auf einer intensiven Kommunikation zwischen den Sprachgruppen, sondern auf dem Prinzip, dass jeder Kanton und jede Region nach eigener Fasson glücklich werden sollte. «Les Suisses s'entendent parce qu'ils ne se comprennent pas»: In diesem Bonmot, das mit der Mehrdeutigkeit des Verbs «verstehen» spielt, steckt immer noch ein Mandelkern Wahrheit. Oder etwas zugespitzt: «soft apartheid», nicht «melting pot» ist das Grundprinzip des eidgenössischen Sprachenhaushalts.

    Dieses Prinzip ist Ausfluss der realistischen Einsicht, dass, wer sich nicht versteht, sich zumindest auch nicht falsch verstehen kann – oder sollte. Konkordanz durch Nicht-Kommunikation: kein sehr begeisternder Lebensentwurf, aber auf begeisternde Entwürfe war die pragmatische Schweiz nie spezialisiert.


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