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Neue Sprachen lassen Vokabelschatz "explodieren"  
    Wenn sich neue Sprachen bilden, gibt es besonders große Wechsel im Vokabelschatz. Das behaupten fünf Forscher, die die Sprachentwicklung mit biologischen Methoden untersucht haben.  
Gleichförmig vs. explosiv
Verändern sich Sprachen in konstantem Tempo oder läuft ihre Entwicklung schubweise - mal langsam, mal explosiv? Wenn man das Wort "Sprachen" gegen das Wort "Spezies" austauscht, befindet man sich mitten in einer Diskussion, die sich vor gut 30 Jahren in der Biologie abgespielt hat.

Damals traten die beiden Paläontologen Stephen J. Gould und Nils Eldredge gegen das Dogma der graduellen Evolution auf, demzufolge neue Arten schrittweise, nämlich durch sukzessive Veränderungen des Gen-Pools entstehen.

Gould und Eldredge hingegen postulierten in ihrem mittlerweile klassischen Aufsatz "Punctuated Equilibria" aus dem Jahr 1972: Die Evolution verläuft sprunghaft, es gibt Phasen des Stillstandes, die regelmäßig von rapiden Entwicklungsschüben durchbrochen werden. "Punktualismus" heißt dieses Gegenmodell zur orthodoxen Evolutionslehre, dem in Fachkreisen jedoch zum Teil recht heftig widersprochen wurde.
Bio-Linguistische Stammbaumforschung
Zu welchen Gunsten auch immer der Streit zwischen Gradualisten und Punktualisten ausgegangen sein mag - eine neue Studie zettelt nun einen ähnlichen Disput im Fachbereich Linguistik an. Der britische Biologe Mark Pagel hat mit vier Mitarbeitern für knapp 500 Sprachen aus drei Sprachfamilien (Bantu, Austronesisch und Indoeuropäisch) einen Stammbaum entworfen, der ihre verwandtschaftlichen Verhältnisse abbildet.

Dafür benutzten sie, je nach Familie, bis zu 200 möglichst eindeutige Vokabel - etwa Zahl- und Fürwörter oder Bezeichnungen für Körperteile. Ungewöhnlich daran ist, dass Pagel und seine Kollegen die Ordnung mit Werkzeugen aus der Evolutionsbiologie herstellten. Sie betrachteten die Wörter als Quasi-Gene, sprachliche Neubildungen als Quasi-Mutationen und speisten das Ganze in ein Statistikprogramm aus der Verwandtschaftsforschung.
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Die entsprechende Studie "Languages Evolve in Punctuational Bursts" ist im Fachjournal "Science" erschienen (Bd. 319, S. 588; doi: 10.1126/science.1149683).
->   Abstract
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Gründereffekt in der Sprachgemeinschaft
Dabei stellten sie fest, dass besonders in jenen Stammbaumbereichen viele neue Wörter ("Mutationen") auftauchen, wo auch viele neue Sprachen (wenn man so will: "Arten") entstanden sind. Dort, wo der Stammbaum weniger Äste aufweist, ist auch die Austauschrate im Vokabel-Pool geringer.

Das spricht für die Hypothese, dass die Entwicklung tatsächlich in Schüben verläuft. Warum ist das so? Pagel und Co. argumentieren wie weiland S. J. Gould und meinen, es käme zu sprachlichen "Gründereffekten", bei denen sich Kleingruppen vom Rest einer Gemeinschaft absondern und ihre sprachlichen Eigenheiten in kurzer Zeit in den Rang der Normalsprache befördern.

Ein klassisches biologisches Beispiel für den Gründereffekt sind etwa die berühmten Darwinfinken, die sich auf den Galapagosinseln - ausgehend von einer Stammart - in verschiedenste Typen aufgefächert haben. Anders ausgedrückt: Räumliche Isolation ist mitunter ein guter Evolutionskatalysator.

Vermutlich gibt es so einen Katalysator auch auf linguistischer Ebene. Zumindest wurde just im inselreichen Polynesien der Vokabelschatz von Sprachspaltungen am stärksten geprägt, wie die Studie zeigt.
Ursache - Wirkung?
Eine zweite Ursache für das beobachtete Muster könnte im zwischenmenschlichen Bereich liegen, vermuten Pagel und Co.: Neue Sprachgemeinschaften würden ihre Zusammengehörigkeit nämlich oft über neue Begriffe definieren. Dem würden Soziologen sicher zustimmen, die Frage ist nur, ob man die Sache nicht auch andersrum lesen kann.

Der US-Linguist Brian Joseph vermutet etwa, dass die Entstehung neuer Sprachen nicht zwangsläufig die lexikalische Vielfalt fördern müsse. Vielmehr könne es auch so sein, dass Sprachen mit hohem Entwicklungstempo einfach anfälliger sind, sich in zwei neue aufzuspalten.

Pagel gibt gegenüber dem Newsdienst von "Nature" zu: Würde man Ursache und Wirkung in seinem Modell vertauschen - der Stammbaum bliebe der gleiche.

Robert Czepel, science.ORF.at, 4.2.08
->   Mark Pagel
->   Brian Joseph
->   Nature News
->   Punctuated equilibrium - Wikipedia
 
 
 
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  lpino | 04.02, 11:25
Nichts Neues. Cavalli-Sforza und andere
sind da schon seit Jahrzehnten dabei.
Neben der kulturellen Dominanz (Englisch, früher Französisch) spielen auch Verwandtschaftsgrade eine Rolle.

In weitgehgend geschlossenen Gesellschaften, wie zum Beispiel der Türkischen Minderheit bei uns, findet kaum ein Sprachaustausch von Türkisch nach Deutsch statt.

Das würde sich ändern, wenn Türkische Frauen nicht nur mit ihren anatolischen Cousins verheiratet würden, sondern auch unter einheimischen Männern wählen könnten.
 
 
  ignatius | 04.02, 11:56
Der "Sprachaustausch"
von Türkisch nach Deutsch
findet aber statt und wird in der ehemaligen BRD als Katastrophe gesehen.

;-)
  stecher | 04.02, 12:25
Den Sprachaustausch gibt es natürlich in beide Richtungen:

Wir reden in Wien vom Haberer, in Graz hßt's Haweh oder Hawi: Das Wort ist ursprünglich jiddisch chaver bzw. arabisch hab'ib, Freund.

Die "Tschewap-tschitschi" (Cevapcici) sind nur leicht verballhornte Kebap-cici, kleine Kebaps (oder Kebapperln) - Kebab heißt Grillfleisch.

Al-kohol, Al-chemie, Al-gebra erinnern uns auch daran, woher unsere Wissenschaft Teile ihrer Quellen nahm.
  mantispa | 04.02, 11:02
der punktualismus
ist sicher okeh, aber älter als Gould. z.b. hat ja K. Schindewolf ähnliche schemate gelehrt, freilich noch nicht mit modernen begründungen. es gibt z.b. bei ammoniten zeiten explosionsartiger speciation, dann ruhigere weiterentwicklung und zuletzt einseitigwerden der anpassungen bis hin zum aussterben.
 
 
  mantispa | 04.02, 13:06
sorry - otto
statt k(urt).
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