„Aggradd“

im Bayerischen Wörterbuch

Aggradd, aggradd ...

Die bairische Sprache zeichnet sich dadurch aus, daß Fremd- und Lehnwörter nicht nur integriert, sondern auch noch mit zusätzlichen Bedeutungen angereichert werden.

Ein Musterbeispiel dafür ist „aggradd“ (aggrat, agrad, agrat), das vom lateinischen „accuratus“ („sorgfältig“, „genau“) abstammt und als „akkurat“ und „accurate“ im Deutschen und Englischen in diesem Sinn verwendet wird.

Im Bairischen hat das Wort zahlreiche weitere Facetten bekommen.

Die folgende Übersicht ist dem Bayerischen Wörterbuch entnommen, das derzeit an der Akademie der Wissenschaften in München erarbeitet wird - unter der Federführung unseres FBSD-Mitglieds Dr. Anthony Rowley. Das Wort „aggradd“ bzw. „akkurat“ hat Herr J. Denz bearbeitet.

Das Bayerische Wörterbuch erscheint in zwei Ausgaben à ca. 100 Seiten jährlich
im Oldenbourg-Verlag.


Aggradd

Zuerst eine Anmerkung zur Schreibweise: Im Bayerischen Wörterbuch steht das Wort unter „akkurat“.
In den Zitaten werden dann verschiedene Varianten verwendet, die den jeweiligen Dialekt wiedergeben.
Die Schreibweise insgesamt - mit Ausnahme gelegentlicher schwedischer Ringerl auf dem dunklen „a“ - ist hier originalgetreu aus dem Bayerischen Wörterbuch übernommen worden.


     Bedeutung 1: „genau“

·        1a: „sorgfältig“, „ordentlich“

paßt eh überaön aös ganz ackrat
aus dem Innviertel

akkrat arbatn tuat a, aba wissn tuat a aa, wos a z volanga hat
Hengersberg, Lkr. Deggendorf

dös is a akrater Mann gwest
Lkr. Neustadt a.d. Waldnaab

(der Richter) sollt' an Platz ... Akràt in Augnschein nehma
Gumppenberg: Loder 33

Ja, geht dei Uhr denn so akkrat?
Altbayerische Heimatpost 7/1955

Im übertragenen Sinn:
nicht ganz akurat sein
"nicht ganz bei Sinnen sein"

·        1b: „übergenau“, „pedantisch“

da Burgamoaschta is wieda akkurata wia a dutzad Beamte
Grafrath, Lkr. Fürstenfeldbruck

vo lauter akkrat kummts zu nix
Viechtach

akrat aufs Dipferl sei
Eschenbach

Da Bauinspekta ... is a goa akrata Moo
Schuegraf: Wäldler 63

·        Weitere Bedeutungen:

„wählerisch“, „anspruchsvoll“ (Bairisch: gschleckart,
hoagli)

Und:
aggrad: „heikel“ (Walkertshofen, Lkr. Dachau)
an agratö Kundschaft (Aicha, Lkr. Passau)
Der is hibsch akrat: „geizig“ (Hartpenning, Lkr. Miesbach)


     Bedeutung 2: „eigensinnig“, „eigenartig“

des is an akrata, an extriga Heiliga
Peißenberg, Lkr. Weilheim

an akratn Khobf ham: "eigensinnig sein"
Aicha, Lkr.Passau

an akratar Mensch
nach Dietl: Erg. Schmeller I.15


         Bedeutung 3: „ausgerechnet“, „gerade“

agrat daselm bine krank gwen, wias do gwenn seits
Traunstein

akkrad du dast ma g'fäu'n
Pfeffenhausen, Lkr. Rosenheim

dann thuast accrat
Die Frucht d'rein, die's den Monat hat

Henle: Guat is's 10

Da hupft er, da gupft er agrad auf mei Hand
Orff: Welttheater 90 (Astutuli)

auch bei der Uhrzeit:
iazz is-s àgràdd zweife
Simbach, Lkr. Pfaffenhofen


     Bedeutung 4: „geradezu“, „ganz“

agrad a so is gwen
Ainring

der hat akrat dös Mei g'sagt
Haidlfing

Nacha schaut's akrat aus
Wiar a Röserl im Schnee

Eberl: Neui Kräutln 97

Obas akkrat so fürabrocht hod, kunnt i ned beschwiern
Münchner Turmschreiber 61


     Bedeutung 5: „absichtlich“, „mutwillig“

jez hadan agradd ned einilassn
Ebersberg

die moant jetzt akrat, sie kann oan derblecka
Christ: Werke 725 (Madam Bäurin)


     Ableitungen

Das Bayerische Wörterbuch nennt die Substantive „Akkurate“, „Akkuratesse“ und „Akkuratigkeit“


No fui aggraddana wiar aggradd:

Noch ein paar Anmerkungen:
Wenn etwas ganz besonders aggradd ist, heißt es
haaraggradd“.
Das Bayerische Wörterbuch nennt als Beispiel aus Straubing: „
haarakrat a so wiards gmacht“.
Das Wort „
haaraggradd
“ ist zur Hälfte eine Entlehnung aus dem Deutschen.
Es wurde offensichtlich von "haargenau" abgeleitet.

Das allerdings ist erstaunlich, denn der Wortteil "genau" ist im Bairischen eigentlich nicht daheim.
Es wird zwar verwendet, um Exaktheit auszudrücken - aber allein schon die Tatsache, daß man nicht "
g'nau" o. ä. sagt, verrät, daß es sich bei "genau" eigentlich um ein Fremdwort handelt.

Viel gebräuchlicher ist „
grod“ mit verstärkenden Zusätzen: „bfaigrod
“, „kiazagrod“, „stangalgrod“.
Uhrzeiten und Geldsummen können auch durch „
auf b Minuddn“, „am Groschn“ und „am Bfeening“ präzisiert werden (aba „am Euro“ –wartmas ab!).
Absolute Exaktheit drückt im aktuellen Bairisch darüber hinaus das Adverb „
hunadbroo“ aus.

Daß „genau“ ein deutsches Fremdwort im Bairischen ist, wird auch dadurch deutlich, daß es zwar als Bestätigungsformel verwendet, dann aber „undeutsch“ betont wird, wobei das betonte „e“ auch noch eine Dehnung über Gebühr erfährt. Beispiel: „
Is s a so?
“ – „Geenau!“

Wer Bairisch spricht und „Genau!“ sagt, will einen deutschen Ausdruck imitieren.
Parallelen zum vom preußisch-militärischen „
Jawoll“ abgeleiteten bairischen „Hawoi“ sind unübersehbar.

Die Tatsache, daß das Wort „genau“ in den 70er Jahren einmal von der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ zum „Wort des Jahres“ ernannt wurde, verdeutlicht, daß diese verdienstvolle Organisation sich für nicht zuständig für den bairischen Sprachraum betrachtet.


Logisch: Eine Sprache mit dem aus dem Lateinischen übernommenen „aggradd“ und dem eigenen „grod“ und dessen Varianten kommt spielend ohne das deutsche „genau“ aus.


 

 

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Seite zuletzt aktualisiert am 17. Feb. 2004

 

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